13:00h – Mein Dealer hatte den Stoff im Briefkasten deponiert. Im Briefkasten der Nachbarn. Wenn die Bullen das Zeug gefunden hätten, dann wäre der Verdacht nicht auf mich gefallen. Mit so einem abgefuckten Scheiß sollte man sich auch echt nicht erwischen lassen. Aber egal jetzt. Das schon etwas abgegriffene Päckchen hing also halb aus dem Einwurfschlitz und ich konnte es problemlos herausziehen.
Der Stoff sollte angeblich der krasseste und heftigste Scheiß auf dem Markt sein. Dealer und Junkies waren schon monatelang mit kleinen Infohäppchen angefixt worden und am Ende wurden sogar Gratisproben verteilt, um die Menge anzuheizen. Wer auf der Straße nicht von den anderen ausgelacht werden wollte, der musste das Zeug einfach probieren. Jeder musste Kane & Lynch 2: Dog Days probieren.
13:10h – Ich saß auf meinem stinkenden Sofa und kaute auf vier gut belegten Brötchenhälften herum. Vor mir auf dem Couchtisch lag allerlei Müll und Unrat, den ich erstmal zur Seite schieben musste, um den vergilbten Xbox 360 Controller freizulegen. Die DVD des Spiels rotierte in der Konsole. Mein Fernseher stand auf zwei Backsteinen, die ich hinterm Haus gefunden hatte und war noch so ein geiles Röhrengerät. Flackernd erwachte er zum Leben und die ersten Bilder machten schon mal klar, wo die Reise hingehen sollte. Nach fucking crazytown. Da saßen zwei nackte Typen auf billigen Plastikstühlen und schrieen sich ihre scheiß Lunge aus dem Hals, während sie aus zweitausend Schnittwunden bluteten. Ich konnte immer nur kurze Momente erhaschen, weil das Bild ständig wieder schwarz wurde und dann wieder ein Schrei und Blut und dann wieder schwarz und noch mehr Blut und schwarz und ein Schlitzauge, dass mit ‘nem Messer noch mehr heftige Schnittwunden aufriss. Dann Stille.
Ich saß also da mit meinen halb gegessenen Brötchen und dann sprang die Handlung einige Tage zurück.
Der langhaarige Lynch traf seinen alten Kumpel Kane in Shanghai. Im dreckigen Teil von Shanghai. Oder im normalen Teil von Shanghai? Auf jeden Fall nicht im Hochglanz-Touristen-Shanghai. Es gab einen letzten gemeinsamen Job zu erledigen. Doch vorher wollte Lynch noch bei einem Typen vorbeischauen. Eine “Nachricht” überbringen. Hatte sein Schutzgeld nicht gezahlt oder was weiß ich.
Kane zog also seinen süßen Rollkoffer hinter sich her und ich übernahm das erste Mal die Kontrolle über Lynch. Ich war mir nicht sicher, ob noch altes Zeug in mir nachwirkte, aber die Gassen von fucking Shanghai waren so derbe dreckig und mit grell leuchtenden scheiß Lampen versehen, dass ich mich in meinem verdammten Drogenalbtraum von gestern Nacht vermutete.
Über einen Hinterhof gelangten wir zu einer schmuddeligen Wohnung und die Scheiße traf den Ventilator. Unser Ziel war ein glatzköpfiger Chinese in Unterhose, der sich gerade mit seiner nackten Freundin vergnügte. Beide waren über unser Eintreffen nicht sonderlich erfreut und das Geschehen begann mit dem Ablauf, der sich die nächsten Stunden nicht mehr ändern sollte: rennen, schießen, fluchen, repeat.
13:20h – Ich blinzelte ein Mal. Zwei Mal. Wischte mir über die Augen. Ja, der Glatzkopf stand da immer noch. Der Kerl hatte auf uns geschossen und das kurze Chaos zur Flucht genutzt. Mit der einen Hand zog er sein nacktes Girl hinter sich her, welches die wichtigen Stellen nur verpixelt zur Schau stellte. In der anderen lag seine Pistole. Ich, Lynch, hatte Kane auch mit einer Feuerwaffe ausgestattet und damit mähten wir nun durch Marktstände, durch Glas, durch Fleisch, durch plötzlich auftauchende Kumpels unserer Beute. Das Bild bockte beim Rennen auf und ab, die grellen Lichter zerschnitten die Umgebung in verschieden bunte Flächen, überall wurde geschrien, gestöhnt und gestorben. Ich drückte kurz Pause und aß meine letzte Brötchenhälfte mit Wurst und Gurke auf.
Dann schaute ich mir wieder den Glatzkopf an. Er stand einfach mitten auf der Straße, umringt von einigen Verkaufsständen und bewegte sich keinen Zentimeter. Erst schoss ich ein halbes Magazin in ihn hinein, aber das interessierte ihn kein Stück. Dann rannte ich auf ihn zu, gegen ihn, um ihn herum. Keine Reaktion. Erstes Level, erster Bug. Das fing ja gut an. War der Stoff hier gestreckt, oder was?
Ich lief schließlich einfach weiter und kaum hatte ich zehn Meter zurückgelegt beamte sich der Scheißkerl an mir vorbei. Gefühlte 300 niedergemähte Chinesen später hatten wir den Typ in einer Gasse eingekesselt. Er hielt seine nackige Freundin als Schutzschild vor sich und mein Blick heftete sich wieder auf die verpixelten Stellen.
Es folgten Schreie, einige Schüsse aus Kanes Pistole und das Mädel sank tot zu Boden. Dann setzte der Kerl plötzlich ein Messer an seine Kehle und wir standen alleine in der versifften Straße.
13:50h – Das Spiel sprang schneller in die nächste Szene als sich ein geübter Fixer einen Schuss setzen kann. Wir saßen in einem Auto und ein älterer Herr erklärte uns den kommenden Deal. Er fragte: “So, how you like Shanghai, Kane?” Kane antwortete: “It’s fucked. I hate it.” Ich lachte.
Dann wurden wir mitten auf der Autobahn gerammt und das bekannte Spielchen begann von neuem: rennen, schießen, fluchen, repeat.
13:55h – Wir waren geflüchtet. Wir wollten wissen, warum wir angegriffen wurden. Wir schossen eine Näherei zu Klump. Irgendwo sollte irgendein chinesischer Mafiaboss seien. Er sollte ein paar Antworten haben.
14:10h – In einer großen Lagerhalle trafen wir mit einigen Verbündeten auf den Typen, der Licht in das aggressive Verhalten uns gegenüber bringen sollte. Es hatte mit dem nackten verpixelten Mädchen vom Anfang zu tun. Sie war nicht irgendeine Hure oder sowas. Sie war die scheiß Tochter des mächtigsten Gangsterbosses Chinas. Unsere Verbündeten waren plötzlich nicht mehr auf unserer Seite. Rennen, schießen, fluchen.
14:25h – Das musste ich erstmal verdauen. Pisspause. Trinkpause. Raucherpause.
14:30h – Meine Antihelden machten auch Pause. In einem Restaurant leckten sie ihre Wunden. Lynch wollte seine Freundin retten. Er dachte, die Typen wollten sie schnappen und als Druckmittel einsetzen. Das war natürlich ein Problem, aber erstmal stürmte ein Polizeisonderkommando die Gaststätte. Der Oberboss hatte viele Freunde. Rennen, schießen, fluchen.
14:50h – Die Polizei hing uns jetzt also auch an den Fersen. Es ging durch neonbeleuchtete Straßen, durch baufällige Häuser, über matschige Wiesen zu Lynchs Appartement. Hier sollte seine Freundin sein.
14:55h – Im Appartementgebäude starb ich erstmals häufiger. Von allen Seiten wurden wir beschossen. Von nackten Typen mit Mülltüten über dem Kopf und Kalaschnikows in den Händen. Wir erreichten die Wohnung. Sahen Lynchs Freundin durchs Fenster im nächsten Gebäude. Wir gaben ihr Feuerschutz. Dann sprengten die Typen neben uns eine Wand. Einer der wenigen überraschenden geskripteten Momente. Wir stürzten über die Dächer, aber die Gangster waren schneller.
Wir alle wurden gefangen.
15:00h – Die Geschichte hatte nun den Punkt des Vorspanns erreicht. Folter, Blut, Schreie, Schwarz.
15:01h – Lynch wachte in einem Mülleimer auf. Die Typen dachten wohl, er sei schon tot und haben ihn einfach weggeworfen. Nackt, stöhnend, aufgeschlitzt und blutverschmiert stand Lynch da. Mir kam ein wenig von meinem Brötchen wieder hoch, während in der Ferne Kanes Schmerzensschreie zu hören waren.
Ich steuere den Fleischklumpen durch das Haus und die Peiniger wurden erledigt. Lynchs Freundin war tot und das Spiel ließ sich etwa drei Millisekunden Zeit für die Aufarbeitung des Verlusts. Dann wieder rennen, schießen, fluchen und bluten.
15:15h – Nach der nackten Flucht in einen TV-Store brach Lynch nun doch zusammen. Die harten Kerle hatten also doch noch in anderen Körperteilen Gefühle als allein im Abzugsfinger. Eine groteske Szene. Zwei blutende und nackte Männer in einem dunklen Raum mit flackernden Monitoren. Die kurzen Emotionen werden aber schnell wieder durch rennen, schießen und fluchen ersetzt.
15:30h – Jetzt driftet das Spiel komplett ab. Wir hatten neue bescheuerte, zu kleine Kleidung gefunden, die wir direkt durchbluteten. In einer riesigen Werftanlage trafen wir unseren Partner für den letzten Deal, der natürlich jetzt auch gegen uns war. Außerdem tauchte die Armee auf und wieder gab es hechel-hechel, peng-peng und fuck-scheiße.
15:50h – Ich hatte erstmal genug. Trank ein schales Bier und schaute aus dem Fenster auf die graue Stadt.
17:00h – Es galt nun nur noch zu flüchten und lebend aus China herauszukommen. Vielleicht mit einem Zug.
17:20h – Natürlich nicht. Die Armee nahm uns gefangen und als standesgemäßes Transportmittel wurde ein Hubschrauber gewählt, mit dem wir zum Obermacker gebracht werden sollten, dessen Tochter Kane auf dem Gewissen hatte. Apropos Tochter. Was ist eigentlich mit Kanes eigenem Mädchen aus dem ersten Teil? Er hatte sie mal kurz erwähnt, meinte, dass das Geld aus dem letzten Deal ihm ermöglichen könnte, sich mit ihr zu versöhnen. Das war irgendwie der einzige Anker zum Vorgänger im gesamten Spiel.
Weil wir harte Kerle waren, konnten wir den Hubschrauber ohne Probleme kapern. Und los ging der wilde Flug. Mit dem Maschinengewehr wurden einige Stockwerke eines Hochhauses zersiebt. Dort drin sollte der Mafiaboss sitzen.
17:55h – Der Hubschrauber stürzte auf dem Dach des Wolkenkratzers ab. Wieder rennen, schießen, fluchen. In den Bürogebäuden sprang mich die Liebe zum Detail bei der Innenausstattung aller Schauplätze erneut an. In großen Glasvitrinen wurden allerlei ausgestopfte Tiere zur Schau gestellt, während wir um uns herum die Büroeinrichtung Stück für Stück zu Schrott schossen.
Der dramatische Höhepunkt und das Zusammentreffen mit dem Gangsterboss endet mit einem einzigen Schuss aus Lynchs Pistole. Kane wollte verhandeln. Lynch wollte Rache für seine Freundin.
18:05h – Mein Hintern tat weh und trotz der bisher geringen Spielzeit konnte der Trip jetzt auch endlich mal enden.
Wir liefen über ein Feld in der Nähe des Flughafens. Direkt neben uns lag eine Landebahn, dahinter die Flughallen. Ich dachte nur: das ist wie in Heat. Aber es gab hier keinen Robert De Niro und keinen Al Pacino für den großen Showdown. Es gab gar keinen großen Showdown. Stattdessen eine verdammte Gepäckabfertigungshalle, in der ich zehn mal starb.
18:20h – Wutpause. Während ich zwischen den scheiß Gepäckbändern zerschossen wurde, stand Lynch nur dumm rum und schaut sich das von einer höheren Ebene an. Ach ja, die Spielfiguren waren schon länger gewechselt. Ich steuerte nun Kane.
19:50h – Ich ging die Szene noch mal entspannt an. Kaum war ich aus der Gepäckhalle raus, rannten wir über das Flugfeld, schossen auf einige Hunde und fluchten, während wir die Gangway erklommen und in das rettende Flugzeug stiegen. Es startete, der Kameramann fiel um, das Bild wurde schwarz, das Spiel war vorbei.
Ich war aus meiner Traumwelt erwacht und saß wieder in meinem normalen Wohnzimmer voller Ikeamöbel. Irgendwas zwischen vier und fünf Stunden hatte ich in einem einmaligen Shanghai verbracht. Die Welt von Kane & Lynch 2: Dog Days ist das Highlight des Spiels. Der dreckige überstilisierte Look und die Mittendrin-Kamera machen Chinas fast 19 Millionen Einwohner starke Stadt zu einem Ort, den man noch nie in einem Videospiel gesehen hat.
Leider hat IO-Interactive aber vergessen, die interessanten Orte auch mit spannenden Inhalten zu füllen. Warum durften wir mit den beiden Raubeinen nicht erst mal ein paar ruhige Missionen erledigen? Kontaktmänner treffen, vielleicht einen ersten kleinen Banküberfall durchführen und erst danach in die Stakkatoballerei des restlichen Games verfallen. Die Möglichkeiten dafür wären sicher da gewesen und die Charaktere hätten auch genug Stoff für etwas mehr Erzählung und weniger Hetzerei gehabt. So bleibt nur der Arcade-Mode mit einigen kurzen Heist-Missionen, die leicht an die coolen Momente des ersten Teils erinnern.
Es ist eine Schande, mit welcher Gnadenlosigkeit die Entwickler all ihr Pulver in einem nicht enden wollenden Rauschen verschießen. Hätten sie all die jetzige Action aufgeteilt und mit ruhigen atmosphärischem Gangsterscheiß gefüllt, dann wäre das Spiel doppelt so lang und dreimal so gut geworden. Schaut man sich das Spiel aber in seinem jetzigen Zustand an, dann bleibt nur eine lange und selbst auf die kurze Spieldauer gesehen eintönige Schießbude übrig. Es ist eine optisch verdammt einmalige Schießbude, die ich gerne durchwandert habe, aber sie allein reicht nicht, um das Spiel uneingeschränkt empfehlen zu können. Wer an der Demo Spaß hat, der sollte sich Kane & Lynch 2: Dog Days allerdings unbedingt anschauen. Vielleicht nicht zum Vollpreis, aber allemal wenn es auf den Grabbeltischen der Videospielhändler landet.
Gespielt wurde ein vom Publisher Square-Enix zur Verfügung gestelltes Exemplar von Kane & Lynch 2: Dog Days auf der Xbox 360. In der Kampagne habe ich auf normalem Schwierigkeitsgrad vier bis fünf Stunden im Singleplayer verbracht und den Arcade-Modus ein bis zwei Stunden gespielt. Zusätzlich sind auch noch Ko-Op- und Multiplayer-Modi vorhanden, die ich nicht getestet habe.
4 Kommentare
*tränenausdenaugenwisch* danke für diese Review, hab herzlich gelacht beim Lesen. Sollte mir das Game nun doch einfach mal anschauen, wenn es schon hier rumliegt :D
Ich dand die Demo ziemlich schlecht, merkwürdiges Waffen- und Trefferverhalten. Alles zu Klump schießen macht natürlich trotzdem Spaß. Ist aber wohl eher ein Koop-Spiel, da hatten ein Kumpel und ich mit dem Vorläufter viel Spaß (bis unsere Videothekenkopie die letzten Level nicht laden wollte).
Sollte man definitiv im Co-Op spielen, nicht nur, weil die KI nicht sonderlich schlau ist (siehe oben). Von der Optik war ich wirklich komplett geflasht, mir hat der Style sehr gefallen, ich mochte das experimentelle rangehen an die Sache. Aber nichts für Menschen, die leicht seekrank werden. Beim Rennen ist die Kamera wirklich eine Zumutung für den eigenen Gleichgewichtssinn. (Weicheier können den aber im Menü abstellen.) – Aber das dreckige Shanghai ist wirklich genial, die erste Hälfte macht wirklich Spaß. Nach der zweiten Gefangennahme und dem Helikopter-Trip wird es leider etwas monoton und auch von der Story zu abstrus. Bis dahin fand ich es ja ganz ok und eine gelungene Wohltat, mal keine strahlenden Helden oder Halbkriminelle mit gutem Herzen zu spielen sondern wirklich skrupellose Fuckheads. Ich muss auch BalkanToni recht geben, dass hier die deutsche Zensur mit der Ladehemmung bei Zivilisten leider etwas von dieser Skrupellosigkeit und Rauhheit wegnimmt.
Das Spiel ist inzwischen SEHR günstig geworden, wie Daniel richtig sagt, es einmal durchspielen lohnt sich. Die Multiplayermodi sahen interessant aus, aber mich killt die Überauswahl an Multiplayer-Modi, die Jungs von IO hätten sich den lieber sparen sollen und dafür mehr Zeit in die Story und einen guten Endfight legen sollen.
Weiß noch im 1. Teil gab es so eine fiese Stelle bei der ich bestimmt 20 mal draufgegangen bin (bei dieser Baustelle mit dem LKW).
Ich habe schon damals über das verschenkte Potential den Kopf geschüttelt.
Trotzdem werde ich wohl auch Teil 2 zum Budgetpreis eine Chance geben.
Vor allem im Coop bestimmt einige Stunden ganz unterhaltsam.