AKT 3 – KATHARSIS
Dunstschwaden. Ein ziellos umher wandernder Suchscheinwerfer. Die kakophone Disharmonie eines instrumentestimmenden Sinfonieorchesters.
Ein fahrig wirkender Mittfünfziger mit wallendem Wollschal und fettigem Haar nestelt selbstgefällig an seiner Nickelbrille, während er einen Praktikanten in Grund und Boden wütet, der ihm gerade versehentlich ins Blickfeld gekommen ist. Eine Requisiteurin klebt noch schnell etwas Lametta an einen grünen Pappmachéechsenkopf, in den sie sich alsdann übergibt, ehe sie ihn einem unbekannten Schauspieler in Krokodilsoutfit, der gerade völlig übermüdet am völlig falschen Tag zum völlig falschen Castingtermin hereinspaziert kommt, in die flossigen Hände drückt.
Der Vorhang hebt sich, wir sehen einen rauchenden, geborstenen Schlot, wie von einer Dampflock, der inmitten eines ansonsten leeren Bühneraums steht. Bis auf ein rotglühendes Licht hält sich die Ausstattung auch sonst im überschaubaren Rahmen.
Auftritt Kaffeemann, der mit einem Notenständer in der Hand und einem reichlich schief sitzenden, zerknüllten Kostüm am Leib zu einem mit weißen Klebeband auf dem Bühnenboden markierten X läuft und diesen dort abstellt. Ein Räuspern entfährt seiner Kehle. Es wird still im Raum. Das Orchester blickt harrend auf den Dirrigenten, der sich noch kurz seine abstehenden Locken mit der flachen Hand glättet. Der Regisseur schnaubt den Praktikanten ein letztes Mal verächtlich an, ehe er sich von ihm abwendet und einen Schluck aus seinem Reiseflachmann trinkt. Es ist mucksmäuschenstill. Nur aus einer Ecke ertönt ein platschendes Geräusch, gefolgt von einem langgezogenen, angeekelten Schrei, der sofort von ungefährt 143 “Psssssccchhhh!!!!!” im Keim erstickt wird.
Das Spotlight findet endlich, wonach es sucht und verharrt auf dem Kaffeemann. Ein Taktstock klopft auf Holz, der Dirigent schaut streng, ein kurzer Moment atemloser Stille, dann setzt mit einem fulminanten Ausbruch ein Stakkato aus komplexen Harmonien an, während Locken, Arme und Taktstock in anmutiger Wirrnis durch die Luft tanzen. Der Kaffeemann singt:
CHRISTIAN: Lieber Leser, unsere interne Diskussion zum Spiel ist ungefähr Mitte Dezember völlig zum Erliegen gekommen, nachdem auch Jens RDR2 zum Meisterwerk erkoren hat. Seither sitze ich daheim in meinem stillen Kämmerlein und brüte darüber, wie Geschmäcker und Wahrnehmungen so grundsätzlich verschieden sein können und warum sich die Menschheit immer wieder erdreistet, sich meiner alleingültigen Meinungsdominanz so vehement zu widersetzen. Hmm.
Interessant finde ich allerdings, dass wir alle ungefähr zum gleichen Zeitpunkt/Spielfortschritt verstummt sind. Bei Jens waren es 60,5 Prozent, bei mir 56,2 Prozent, Urs hatte sogar schon deutlich früher keinen Bock mehr… und Doreen… nun, die hat sich offenbar im Wald verritten und mehr Häschen gejagt, als sie tragen konnte und ward nicht mehr gesehen.
Falls das der Hauptindikator für ein Meisterwerk sein sollte, dass man sich so sehr in der Spielwelt verliert, dass das eigentliche Spiel dabei völlig in den Hintergrund tritt – nun, hier könnte RDR2 tatsächlich auch bei mir ganz oben auf dem Treppchen stehen.
Wenn, ja wenn mich dieser nebensächliche Quatsch bloß interessieren würde. Tut er aber nicht.
Versteht mich nicht falsch: die Atmosphäre und das World Building sind natürlich fantastisch. Die Lebendigkeit der Spielwelt, all die wuselnden Charaktere, die ihrem eigenen Tagwerk nachgehen (bei dem man allerdings nicht so genau hinschauen sollte, weil man sich dann ganz schnell fragt, was denn dieses Tagwerk eigentlich sein soll), die immer wieder faszinierende, wunderschöne Lichtstimmung, die Flora und Fauna, die kleinen und kleinsten Details, in die Rockstar so unglaublich viel Arbeit gesteckt hat, dass man fast schon behaupten möchte, 100-Stunden-Wochen seien mehr als nur gut investiert in dieses Spiel… all das schafft eine Spielwelt, in die man, in die ich nur allzu gerne abtauchen und in der auch ich mich so sehr verlieren wollen würde. Allein: das Spiel lässt mich nicht.
Weil ich nunmal jemand bin, den all die kleinen Nebenaufgaben wie Jagen, Fischen, Häuten, Überfallen, Ausrauben, Pokern, Domino-äh—ieren, Verhauen, Verhauen lassen, Reiten oder Schönwettermachen nicht interessieren. Weil ich keine Zeit habe, ein halbes Jahr nur mit einem einzigen Spiel zu verplempern. Und weil ich nunmal mehr am übergeordneten Spannungsbogen, an der Geschichte und wie sie mir präsentiert wird, interessiert bin. Machen wir uns nichts vor: genau hier patzt RDR2 leider vollkommen. Hier und an noch ein paar anderen Stellen. Beim Storytelling zeigt sich für mich allerdings am eklatantesten, dass es nicht unbedingt von Vorteil ist, sich in zu vielen Details und Nebenschauplätzen zu verlieren. Als Spieler mag einem das vielleicht sogar noch zugute kommen, da man einfach nicht mehr merkt, wie dumm das erzählerisch doch teilweise alles zusammengeschustert ist – aus Entwicklersicht ist es allerdings sehr wohl schlecht, wenn einem Pferdeklöten plötzlich wichtiger sind als nachvollziehbare Handlungen, mit denen der Spieler sich identifizieren kann. Nun ist es ja insgesamt sehr rührend, wie Dutch sich anfangs um seine Bande sorgt und die Grundmotivation der Charaktere schimmert auch hier und da durch. Wie allerdings die Bande als ganzes durch die Geschichtensuppe gezogen wird, ist stellenweise zum Haareraufen. Da torkelt man von einer dummen Mission zur nächsten, alles, was man sich vorher erdacht hatte, endet grundsätzlich in einem Volldebakel, das nur dazu dient, mal wieder eine zünftige Schießerei zu rechtfertigen und das Lager mal wieder auf einem anderen Teil der Karte aufschlagen zu dürfen (bzw. müssen). Nichts von dem, was diese Bande so anstellt, wirkt auch nur annähernd nachvollziehbar, geschweige denn durchdacht. Dass mit Micah auch noch (wieder mal) ein absoluter Vollirrer dazu kommt, der einzig und allein dazu da ist, alle paar Stunden mal für ordentlich Kawumms und Chaos zu sorgen, setzt dem ganzen nur noch das inszenatorische Scheißekrönchen auf (ja, ich weiß, dass Micah später noch für ganz andere Dinge gut ist, aber ganz ehrlich: bis es soweit war, hatte mich das Spiel schon längst verloren). Spätestens mit der Anlandung an Guaram war es für mich dann vorbei. Der missglückte Banküberfall, der dem ganzen vorwegging, war so vorhersehbar dumm in Szene gesetzt und mit so viel Anlauf vor die Wand gefahren, dass es mir einfach zuviel des Guten wurde.
Zudem frage ich mich bei Red Dead Redemption 2 nicht zum ersten Mal, warum Rockstar so sehr, geradezu verzweifelt, an Gangster-Klischees festzuhalten versucht, statt mal eine frische Perspektive ins Spiel zu bringen. So sehr sie sich anfangs immer bemühen, ihren per se kranken (hint hint) Figuren einen sympathischen Twist mit auf den Weg zu geben, so sehr kippt meine Sympathie nicht nur für Arthur Morgan, sondern für nahezu jeden Rockstar-Protagonisten zuvor, irgendwann ins absolut Negative. Da kann mir das System noch so viel Ehre und Ansehen verleihen: wenn der Hauptcharakter sich in Dialogen und durch seinen nunmal kriminellen Charakter immer wieder als Arschloch präsentiert, dann vergeht mir die Lust am Spiel. Denn mit anderen Arschlöchern mag ich mich nicht identifizieren. Mein eigenes Ego ist mir da genug.
Dass RDR2 auch darüber hinaus auch noch in seinen grundsätzlichen Spielmechaniken versagt und nahezu jeden Fortschritt etwa in Sachen Steuerung, den man seit – sagen wir – GTA: Vice City gemacht hat, wieder zurückdreht, verleidet mir dann völlig die Lust am Spiel. So hakelig, so frickelig, so behäbig und träge, so verdammt nochmal scheiße, hat sich seit Tommy Vercetti wirklich kein Videospielcharakter, der mir seither untergekommen ist, mehr gespielt. Im Gegenteil: im Vergleich zu Arthur war Tommy, trotz seiner unverschämt miesen Animationen, noch ein geradezu flinkes Wiesel, das sich bloß einfach nicht steuern lassen wollte (rieche ich hier etwa eine politische Aussage, die mir bei Vice City bislang einfach immer durchgegangen ist? Sollte das etwa Rockstars Botschaft an uns sein: Lass Dich nicht steuern! Von niemandem?! Hmmm…).
Oder um es endlich mal auf den Punkt zu bringen: Red Dead Redemption 2 ist einfach nicht mein Spiel.
Der Taktstock klappert, aus dem Orchestergraben ist ein Fluchen zu hören, die Musik setzt abrupt aus. Nach einigem Rumgekrabbel und hilflosen Blicken der ersten Geigenperson, sowie noch etwas mehr Fluchen, diesmal von oben von der Bühne herab, wird der Taktstock triumphierend in die Luft gereckt und setzt sofort und unvermittelt seinen faszinierenden Tanz fort.
CHRISTIAN: Fun Fact: Ich muss Red Dead Redemption 2 nichtmal mehr selbst durchspielen, weil mir die Gamestar neulich in einem Video den kompletten weiteren Verlauf der Geschichte gespoilert hat. Da lässt man beim Putzen nebenher ein bisschen Youtube laufen – und während man gerade so den Fußboden bohnert und die YouTube-App sich von einem Random-Video zum nächsten hangelt, purzelt plötzlich ein Spoiler-Video dazwischen, bei dem sich zwei Redakteure mir nichts Dir nichts über praktisch jedes Detail austauschen, das es nach Guaram noch zu entdecken gab. Sehr gut. Hat sich meine eh schon dürftige Motivation, eventuell nochmal ein bisschen weiter reinzuspielen, dann komplett erledigt.
Ein Paukenschlag. Der Taktstock verharrt in der Luft. Die Musik wechselt abrupt von Western zu Country. Das Spotlight wagt einen rasanten Schwenk, der zunächst auf dem linken Vorhangschal landet, ehe es die richtige Position findet.
Auftritt Opiummann. Gewandet in edlen Zwirn, dessen hochgeschlossener Kragen sein Haupt erhebt. Ein Monokel ziert seine linke Augenhöhle. Gemessenen Schrittes bewegt er sich auf den Kaffeemann zu, ein Faktotum im Schlepptau, das ihm gierig auf die Lippen schaut und leise flüsternd jedes seiner Worte ehrfurchtsvoll nachspricht. Mit einer theatralischen Geste schiebt der Opium- den Kaffeemann zur Seite und beginnt, eine Arie zu schmettern, die sich irritierend erfrischend mit den Countryklängen des Orchesters zu einer recht eigenen Spielart mit Popappeal vermengt:
JENS: Beginnen möchte ich meinen Abschluss des Polytalks zu RDR2 mit einer Frage: Wann ist wohl der beste Zeitpunkt über ein Spiel abschließend zu urteilen? Wenn die Kampagne beendet ist? Oder dann, wenn auch die letzte Trophäe eingesammelt wurde? Vielleicht an dem Zeitpunkt, an dem man die Faxen einfach nur noch dicke hat? Alles hat seine Berechtigung, selbstverständlich, aber doch gibt es Unterschiede – und zwar in der vermeintlichen Universalität der eigenen Aussage.
Ich schätze es sehr, wenn Menschen zum Ausdruck bringen können, dass eine Wertung ihrer persönlichen Meinung zugrunde liegt. Wobei mir Einschätzungen weitaus sympathischer als Bewertungen sind, nebenbei bemerkt. Was das Handwerk betrifft, auch im künstlerischen Sinne, mag ein „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“ sachlich begründbar sein, da gibt es eben nicht fünfzehn komplett verschiedene Meinungen, sondern klare, im Konsens und im Laufe der Zeit scharf gezogene Kriterien, nach denen man sich richtet. Bei RDR2 beispielsweise werden auch die größten Rockstar- und AAA-Gegenspieler ihre Schwierigkeiten bekommen, das Handwerk der Entwickler niederzuschrei(b)en. Klar, man kann sagen, dass andere Studios auch Open World können und RDR2 daher eigentlich total konservativ und eine durchschnittlich-mainstreamartige Enttäuschung ist, aber dann wundere ich mich, wenn die gleichen Leute den hunderttausendsten Indie-Pixel-Plattformer abfeiern. Wahrscheinlich bzw. womöglich liegt die Erklärung dafür darin, was in einem Videospiel zwischen den Zeilen erzählt und wie es wahrgenommen wird. Was berührt und was nicht berührt.
Ganz generell habe ich Schwierigkeiten damit, wenn Leute meinen die Weisheit mit Löffeln gefressen und im Besitz der EINEN GROSSEN WAHRHEIT zu sein. Und sie dann als solche ausgiebig rausposaunen. Es ist so einfach und geht so schnell, via Twitter schmissig rumzuheulen und seiner Blase Bescheid zu stoßen, wie die Lage ist. Das finde ich bedauerlich, denn differenziert verlaufen solche Monologe ja eher selten, ne? RDR2 bietet viele Vorlagen, schnell mit einem Spruch um die Ecke zu kommen. Scheiß Unternehmen, scheiß Arbeitszeiten, scheiß AAA-Mainstream, scheiß GTA, scheiß Cowboy-Kram, scheiß Ist-doch-scheißegal, Hauptsache es ist kacke. So tiefgründig und am eigentlichen Produkt voll vorbei wirkte die RDR2-Diskussion da draußen zuweilen auf mich und wie unschwer herauszulesen ist, verlief auch dieser Polytalk nicht so ganz glatt. Vorsichtig gesagt: Wir fanden nicht so recht einen gemeinsamen Nenner.
Müssen wir ja nicht, aber hier komme ich gerne zur Ausgangsfrage zurück. Wenn es also nicht den EINEN GROSSEN ZEITPUNKT gibt, an dem man über ein Spiel urteilen DARF, dann dürfte der Abspann – also ob man ihn gesehen hat oder nicht – ein guter Anhaltspunkt dafür sein, wieviel Zeit und Freude in das Spiel investiert wurde. Und es existiert zumindest theoretisch mehr Anlass zu motzen, denn wer das Finale nicht kennt, kann sich schwer darüber aufregen, nicht wahr? Sofern natürlich nicht vom Hörensagen her die Meinung des Schwippschwagers schon ausreicht, dessen Cousin dritten Grades RDR2 beinahe zu Ende gespielt hätte und enttäuscht davon war, wie er sich das Ende ausgemalt hatte. Für Twitter reicht das, aber für mehr meiner Auffassung nach eben nicht. Bei einem Epos wie RDR2 macht es tatsächlich einen gravierenden Unterschied, ob der zweite Epilog durchgespielt oder das Spiel bei 58 Prozent beendet wurde.
Es ist ganz einfach zu sagen: RDR2 gefällt mir nicht, ist mir zu lahm, das Cowboy-Getue nervt und außerdem will ich pro Monat vier Spiele abschließen und nicht eins über vier Monate. Damit kann ich beispielsweise etwas anfangen. Dann trifft RDR2 eben nicht den Geschmack. Na und? Kann passieren. Aber deswegen ist RDR2 kein schlechtes Spiel. Hier ist also Raum, um schön zu differenzieren – sofern man mag, natürlich. Andersrum wird übrigens auch ein Schuh draus: Gerne würde ich erfahren, wie viele der sogenannten Spielejournalisten tatsächlich zu Ihrer sogenannten Kritik zum Launch des Spiels RDR2 komplett durchgespielt haben. Ich tippe auf zehn Prozent – und dabei bin ich sehr optimistisch. Wie sollte das bei einem derart zeitintensiven Spiel möglich sein? Im „Videospieljournalismus“ gelten natürlich leider Gottes gewisse kommerzielle Zwänge – aber auch das ist kein Anlass, ein Videospiel einfach mal aus halbgarem Halbwissen heraus als hervorragend zu bewerten und das in großen Lettern zu veröffentlichen.
Im Polytalk – wie auch auf anderen Kanälen (durchforstet mal die Kommentarspalten unter den positiven Reviews) – störte es mich, wenn RDR2 für Kleinigkeiten lautstark kritisiert wurde, die definitiv nicht stimmen. Sowas muss und sollte nicht sein. Die Klassiker sind die angeblich fehlende Schnellreise- und manuelle Speicher-Funktion. Bei RDR2 wird man mit so einem Käse schnell ertappt – da es ein Spiel ist, bei dem man sich Standard-Komfort-Zeugs erst einmal verdienen muss. Wer nach sieben Prozent aufhört und so tut, als hätte er das Spiel nahezu durch, steht schnell nackt da. Wie dem auch sei: Für eine weiterführende Diskussion ist es hilfreich, wenn alle auf dem gleichen Boden stehen.
Abschließend kurz meine Einschätzung dazu, warum RDR2 ein Meisterwerk ist, der Polytalk kreiste um diese Frage. Also: RDR2 verbindet perfekt seine Spielwelt mit seinen Themen/Charakteren und nimmt sich – frontal gegen die Branchengewohnheiten und sogar den Zeitgeist – die Ruhe, seine Geschichte in der epischen Länge zu erzählen, die sie verdient. Moral, Schuld, Sühne und Vergänglichkeit stehen dabei als Pfeiler an dem einen Ende und eine Antwort auf die ewige Frage, ob und wann und wie man sein Leben noch zu einem sinnvollen guten Ende bringen kann, auf der anderen Seite. Schon die bloße Absicht, sich solch kommerziellen Ladenhüter-Themen anzunehmen, verdient Applaus. Dem hohen Anspruch (meiner Meinung nach…) gerecht zu werden, erhebt RDR2 dann in den Meisterwerk-Rang.
Aus dem Off ertönt ein “Aaaaaaachtung!!!”. Ein Scheinwerfer fällt aus heiterem Himmel aus dem Bühnenhimmel hernieder und erschlägt das Faktotum, das gerade dazu ansetzen wollte auf eine frühere Stelle im Script zu verweisen. Der Regisseur verdreht die Augen und nimmt noch einen Schluck aus seinem Flachmann, eher er den Praktikanten zwingt, die Überreste des Faktotums mit einem Kehrblech zu beseitigen. Gott, wie er Generalproben hasste.
Kaum dass der Praktikant die letzten blutigen Milchzähne des Faktotums mit angewidertem Blick und seiner Fußspitze in den Orchestergraben gekickt hat, gibt der Regisseur auch schon wieder das Zeichen zum Fortfahren. Ein langhaarig lockiger Rocker mit schwarzem Zylinder intoniert ein markantes Riff auf seiner Humbucker-bestückten E-Gitarre, während das Orchester ein weiteres Mal die Spielart wechselt, nun zu hymnischem Poprock voller Glanz und Glorie. Das Cowgirl, nun gewandet in weißem Spandex und ein weißes Feinrippunterhemd, hat sich einen dunklen Schnauzbart unter eine viel zu große Gumminase geklebt und setzt sich an einen weißen Flügel aus Glas, der vom Praktikanten unter lautem Ächzen an die vordere Bühnenkante geschoben wird. Verträumt hält das Cowgirl kurz inne, senkt dann die Finger auf die Tasten und beginnt dissonant aber voller Inbrunst zu spielen, während sie mit einem gutturalen Kehlkopfgesang einem Klassiker der Musikgeschichte neues Leben einhaucht, indes über ihr in dicken roten Lettern das Wort “SPOILERWARNUNG” in gesamter Höhe und Breite des Bühnenraums auf dessen Rückwand projiziert wird:
DOREEN: Viel möchte an dieser Stelle auch nicht mehr sagen, Jens hat diesen seltsamen “Talk” eigentlich zu einem schönen Abschluss gebracht und sein Niedergeschriebenes enthält viel Wahrheit. Mittlerweile habe ich RDR2, bis auf einige Herausforderungen und Sammelaufgaben, auch durchgespielt, habe alle Nebenquests absolviert und ich denke, ich habe auch alle Fremde-Personen-Aufgaben entdeckt. Meine Karte ist jedenfalls offen, jetzt kann ich mich mit John Marston in Ruhe meinen fehlenden Tieren und Pflanzen widmen, hrrrrr!
RDR2 ist ein Spiel, auf dass ich mich so sehr gefreut habe und ich wurde nicht enttäuscht. Mich hat es jetzt im Nachhinein etwas an GTA IV erinnert. Fast jeder hatte an dem Spiel etwas auszusetzen und war allgemein nicht gut darauf zu sprechen. Für mich war GTA IV eines der besten GTAs, mit einem interessanten Hauptcharakter, einem “armen” Russen, mit dem sich kaum einer identifizieren konnte, weil er nicht den typisch pubertären Humor besaß, wie die üblichen Rockstar-Figuren. Tztz. Kaum jemand spricht oder schreibt über Arthur Morgan, wer er wirklich war, was er einst besaß und verlor. Stattdessen wird ewig darüber fabuliert, dass man mit der Steuerung nicht zurecht kam und das man mehr damit zu tun hatte, den Storyfortschritt in Prozent anzustarren und anzunehmen, man hat bei 50% alles gesehen. Ähh, nö, hat man nicht!
Arthurs Charakter hätten die Rockstar-Autoren nicht besser schreiben können und er ist mit Sicherheit einer der vielschichtigsten Videospielfiguren der letzten Jahre. Ganz beiläufig und ohne Theatralik erwähnt er kurz vor seinem tragischen Ende, dass er einst viel besaß und dann nicht mehr. Er verlor Frau und Kind in frühen Jahren, sie wurden ermordet von Gaunern, die sie für wenige Dollar töteten. Als Arthur von einer seiner langen Reisen zurückkam, fand er nur ihre Gräber vor – dieses Erlebnis zeichnete ihn schwer. Das erzählte er kurz vor seinem Tod einem Vertrauten – es sollten Arthurs letzte Tage seines Lebens sein. Seine finalen Minuten im Kampf gegen Micah, diesem Ekelpaket, der alle verraten hat und dann auch noch das Glück besitzt, gesund weiterleben zu dürfen, während Arthur blutend und geschwächt auf einem Felsen im Sonnenuntergang starb, an einer Tuberkulose – ihn hat es schier dahingerafft. Es war wie eine Strafe für die jahrelange Hörigkeit gegenüber einem Menschen, der Arthur sehr wichtig war, dass aber nur bedingt auf Gegenseitigkeit beruhte, auch wenn es anfangs anders aussah. In RDR2 spielt man einen langsam sterbenden Charakter, der am Ende sehr krank ist und dem man als Spieler dabei zusieht, wie er langsam dahinvegetiert. Nicht, dass ich es nicht bereits wüsste wie grausam das ist, so fand ich es in diesem Spiel ganz beeindruckend, tief und in Bezug auf Videospiele, neu.
Am Ende kommt RDR2 mit seinem zweiteiligen Epilog zu einem (für mich) guten Abschluss, in dem keine Fragen mehr offen bleiben. Das Spiel hat aber ohne Zweifel seine Makel, über die man zwangsläufig stolpert. So stellt man fest, dass zu Beginn das Geld eine große Rolle spielt und man im Verlauf immer wieder für Schotter auf die Pirsch geht, Arthur jedoch schon längst ein paar Tausender in der Tasche hat. Man hat irgendwann Geld im Überfluss, kann aber wenig damit anfangen. Und es ist auch egal, ob sich die Moral im grünen oder im roten Bereich befindet – das Feature hätte man sich locker ersparen können. Meinen persönlichen Storyhänger hatte ich in Guaram, den brauchte man so überhaupt nicht, aber alles was danach kam, ließ diesen kränkelnden Ausbruch der Schwachsinnigkeit wieder schnell vergessen.
Wie Teil 1+2 miteinander verwoben sind, fand ich auch sehr gelungen. Wenn ich mir überlege, wie nach dem Ende von Teil 2 jetzt also Teil 1 losgeht, wirkt das auf mich rund und harmonisch. John Marston zu spielen war im Finale eh nochmal ein Highlight und eine kleine Genugtuung. Ich könnte jetzt eigentlich locker mit Teil 3 anfangen, wenns nach mir ginge.
Und fürs Protokoll: Die Geschichte von Red Dead Redemption 2 ist NICHT die eines Spaghetti-Westerns.
Großes Finale. Das Cowgirl steht mit einem rasanten Schwung auf, stößt sich vom gläsernen Flügel ab, der mit einem gehörigen Bewegungsmomentum in den Orchestergraben stürzt und auf der Rhythmussektion zerschellt. Der Taktstock, seit geraumer Zeit nur noch als schemenhaftes Wischen in der Luft zu erkennen, kommt zur Ruhe, der Dirigent wringt sich erschrocken die Locken aus, während der Rest des Orchesters unter lautem Getöse das Weite sucht. Die Hauptdarsteller sehen sich achselzuckend an, ehe sie in verschiedene Richtungen abgehen und den verzweifelt dreinblickenden Regisseur alleine mit seinem Praktikanten, der gesamten Theatercrew und nur noch einem kleinen Rest billigen Fusels im Metallkolben zurücklassen. Ehe er sich versehen kann, steht der Gitarrist neben ihm, schnappt sich den Sprit und gießt ihn flugs auf das Kehrblech mit den Resten des Faktotums, um sodann mit der glimmenden Kippe aus seinem Mundwinkel ein Miniinferno zu entfachen und die Hookline von Truck Stops Der wilde wilde Westen anzustimmen, ohne hinterher die Gema darüber zu informieren. Und während er so vor sich hingniedelt, fällt der Vorhang auf die Szenerie fängt Feuer.
Über die Premiere des Stücks soll am Morgen eines Tages Anfang März in der Zeitung stehen, dass insbesondere das Bühnenbild mit seiner realistischen Nachbildung einer aschfahlen Vulkanlandschaft, samt zwar irgendwie schlotig wirkendem, aber doch gelungen designtem Krater, unter freiem Himmel besonderes Lob verdiene, während die minimalistische Instrumentierung mit Blockflöte, Triangel und Maultrommel, sowie das eher lustlose Spiel der Hauptdarsteller als zumindest irritierend empfunden werden müsse. Außerdem wird das Fernbleiben des groß angekündigten, hühnenhaften Startenors noch eine ganze Weile für Gesprächsstoff sorgen.
P.S.: Akt I + II dieser gewöhnungsbedürftigen Darbietung finden sich hier und hier.
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