Ich schlüpfe dieses Mal überraschenderweise in den Körper eines rosafarbigen, männlichen Wurms, Noby Noby Boy. Ich sehe ihm unmittelbar nach dem Verlassen seines Hauses (die Nase des Hauses versprüht scheinbar Seifenblasen) ins Gesicht. Er sieht aus, als hätte er bereits 30 Leute um den Verstand gebracht.
Ups, das kommt mir irgendwie bekannt vor …
Boy frisst sich Namco-mässig durch seine Welt, streckt sich und hilft durch sein Längenwachstum Girl auf ihrem Weg durch das Sonnensystem. Für das Sichten des Space-Squirrels bekommt man eine bronzene Trophäe, für das Fressen des eigenen Namens eine goldene (nimm das, Luftbieger). Weiße Tori dienen als Wolken, aus den grauen Schmalzkringeln regnet es blaue Tropfen. Mein Haus spuckt bunte Seifenblasen aus seinem Nasenrohr, Bären fahren Fahrrad, Elfen Motorrad, Papageien träumen vom Fliegen, die Fee verbreitet Glitzerstaub, Kamele reiten auf meinem Rücken, mein Kopf verströmt bei jeder Bewegung gelbe Herzchen, mein Hinterteil blaue. Dunkelhäutige Bodybuilder tragen rosa Gymnastikleibchen am Leib und blauen Lippenstift um den Mund, Seeotter schwimmen in Rückenlage durch die Luft, Riesenkreisel greifen an, südamerikanische Indianer terrorisieren die Nachbarschaft mit Gabelstaplern. Hunde, Katzen und rosa Hasen leben in Frieden miteinander. Die Auberginen auf Rädern verwirren mich da kaum noch, aber was ist mit Zigarrenstummeln, die auf Salzcrackern dahinrollen?
Die Grafik scheint direkt den besten High-Tech Demos der frühen Achtzigern entnommen zu sein, verschiebt man die virtuelle Kameraposition in den Boden, sieht man tatsächlich eine Drahtgitterdarstellung der Welt. Manchmal klingt es nicht nur so ähnlich wie Dig-Dug, Pac-Man und Galaga, es sind tatsächlich die Originalklänge. Mich erinnert es sehr an frühe VRML-Welten: ein paar einfache geometrische Grundformen, Soundsamples die ohnehin auf der Festplatte herumlungern und das Ganze auf eine grüne Legogrundplatte geworfen, die ihrerseits im Nichts schwebt. Selbst die komplizierten Steuerungsmöglichkeiten der virtuellen Kamera kann ich wiedererkennen.
Zu den wichtigen Nichtigkeiten: Jeweils einer der beiden Sticks kontrolliert ein Ende des schlängelnden Körpers. Bewegt man nur den Kopf, folgt irgendwann das Hinterteil und umgekehrt. Richtige Verwirrung kommt aber erst beim gleichzeitigen Bewegen von Kopf- und Hinterteil auf. Laufen Kopf- und Hinterteil in entgegengesetzte Richtungen, bekommt Boys Körper in der Mitte zusätzliche, farbige Elemente, der Körper gewinnt an Länge. Das ist der offizielle Sinn des Spiels. Wie bei einem übergewichtigen Dackel liegt dieser Bauch danach träge auf dem Boden, nur Kopf und Hinterteil haben Beine. Boy sieht jetzt zwar aus wie eine aus Resten gestrickte Ringelsocke, aber dafür beginnt der eigentliche Spass. Der Schlangenkörper hat Gewicht und eine gewisse Elastizität. Es ist keine einfache Aufgabe, Boys Kopf und Hintern zu bewegen, ohne den langen Bauch über den Rand der Welt fallen zu lassen, denn oft ist sein Körper länger als die Welt, auf der er wandelt. Kommt es doch zum langfristig unvermeidlichen Absturz, wird Boy durch den Schornstein seines Hauses wieder ausgespuckt. Mit den Schultertasten des Controllers wird gefressen und ausgeschieden, gegriffen, gehüpft und stehen geblieben. Ach ja, die Kamera bewegen sie auch noch. Die Welten auf denen Boy unterwegs ist, haben immer einen gewissen Zufallscharakter. Die Mischung aus aktiver Bevölkerung (Mensch, Getier und … Zeug), statischen Elementen (Häusern, Pflanzen und … Zeug) und der Grösse und Beschaffenheit der Bodenplatte (quadratisch, langgestreckt, flach oder mit unterschiedlichen Höhen) dürfte jede Welt einzigartig machen. Ohne Ablenkung durch Anrufe eines Cousins und seiner Beschreibung amerikanischer Glandula mammaria kann man sich dann ganz dem eigenen Spiel widmen. Wickeln um Windräder statt Überfahren von Prostituierten, Auffressen aller menschlichen Bewohner statt Sprung vom Hochhaus, explosives Ausscheiden zuvor genannter Gefressener statt Hubschrauberkamikaze, möglichst viele Bewohner auf dem eigenen Rücken mitnehmen statt der zwanzigsten Taxifahrt von Algonquin nach Broker.
Auch wenn das Spiel keinen Platz für direkt sichtbare Mitspieler hat, so nimmt es die Web-2.0-Welt dennoch wahr und gibt dem Spieler mit einer merkwürdig halb-integrierten Schnappschussmöglichkeit und einer einfach zu nutzenden Filmfunktion die Mittel zur Hand, die Flickr- und YouTube-Server noch ein wenig weiter zu füllen. Der eigentliche Mehrspieleraspekt ist allerdings eine globale Highscoreliste, über die, in Zusammenarbeit aller Boystrecker der Welt, zusätzliche Inhalte freigeschaltet werden. Jeder Spieler übermittelt seine zuletzt gestreckten Meter online an Girl, die sich ihrerseits so immer weiter in den Weltraum erstreckt. Man findet sich dann an einem gebührenden Platz auf Girls Rücken wieder. Vor und hinter sich sieht man alle anderen Spieler, jeder in Form eines sehr eigenwillig gestalteten, individuellen Avatars. Alle in einer langen Prozession von der Erde zum Mars. Der Mond wurde schon umwickelt und brachte den Spielern im Rückblick unverzichtbare Neuerungen wie Hunde in Raumanzügen oder laufende Halbmonde. Ob und wann mit der tatsächlichen Ankunft auf dem Mars zu rechnen ist, steht allerdings noch in den Sternen. Mit einer möglichen iPhone-Umsetzung könnte Girl ja aber noch einmal einen plötztlichen Wachstumsschub erleben.
Noby Noby Boy vom Katamari Damacy-Erfinder Keita Takahashi ist einfach und gar nicht einfach. Der Bildschirm erscheint auf den ersten Blick grafisch eher schlicht, wird aber mit sehr phantasievollen (oder wirren) Schöpfungen bevölkert. Einfache Steuerung des Charakters bei barocker Überbelegung der Controllerfunktionen. Es ist sehr leicht zu verstehen und kann ebenso leicht überinterpretiert werden. Es steckt nichts drin und kann einen doch Stunden wertvoller Lebenszeit kosten. Man sollte eine gewisse Art von Humor mitbringen, mehr Duchamp-einfach denn Mario Barth-primitiv. Man bekommt nur heraus, was man hineinsteckt. Wer entdecken will, kann etwas finden. Wer sich unterhalten will, kann seinen Spass haben. Wer unterhalten werden will, wird enttäuscht.
Im Prinzip ist es eine Physiksimulation, die von einem Gummiband und einer Vielzahl sehr rudimentär animierter Objekte bevölkert wird. Vielleicht hätte ich mit einem richtigen Gummiband, zwei Bauklötzen und einer Murmel genau so viel Spass gehabt. Aber könnte mich das jetzt noch zufriedenstellen, nach der Bekanntschaft von Sphinxkatzen, Gesichterbäumen, Sonnenlöwen …?
4 Kommentare
Und die PSP? Wenn man die verkorkste Steuerung auf das iPhone portieren kann, sollte doch auch eine Version für die PSP drin sein.
Schade eigentlich, ich hätte für diese völlig abgefahrene Spielidee Geld ausgegeben.
schöner text über ein herrlich beknacktes äh… spiel.
Da Du ja bestimmt auch Katamari gespielt hast, würde mich ja ein Vergleich interessieren. Ist es auch so ähm… cool und schräg? Es ist anders, ganz klar.
Was ich meine, Puschel: Wie viel Spaß machte es Dir, ganz subjektiv, im Vergleich zu Katamari?
[b]SPASS[/b]? Du fragst tatsächlich nach Spass? Wir feiern 30 Jahre Space Invaders und es gibt immer noch Leute, die Spiele nach solch simplen Kriterien wie Spass beurteilen. Unglaublich … und ich dachte wirklich, wir hätten Fortschritte gemacht.
Tief durchatmen, hmmmm…, jaa…, Spass. Katamari, lustige Musik, lustige Idee, lustige Figuren, Spass, ich erinnere mich. Katamari Damacy und Noby Noby Boy: es ist wie der Vergleich zwischen Harry Potter und einem leeren Blatt Papier, einem Superheldencomic und einer Packung Wachsmalstifte, einem Abba-Lied und einer Triangel, Krieg der Sterne und einer Super-8 Kamera … Es liegen lediglich Elemente eines Spiels herum, jegliche narrativ-verbindende Struktur fehlt, die Verantwortung für Spass liegt vollständig auf den Schultern der Spielerin. Schlichter, einfacher, gewohnter, guter alter Spass kommt so eher nicht auf. Eher Verwunderung, Erstaunen ob der Einfälle und der ständige Gedanke, ob der Kaiser nicht vielleicht doch nackt ist. Im Gedankenexperiment vielleicht das perfekte Spiel für Zwei- bis Vierjährige. Andererseits haben die auch Spass an Sandförmchen.